Der Glaube soll gelernt sein
בס"ד
Das erste aller Feste im Judentum ist Pessach, an dem wir nicht nur den Auszug aus Ägypten, sondern auch die Geburtsstunde des Volkes Israel feiern. Das letzte Fest im biblischen Kalender ist Purim, das genau einen Monat vor Pessach gefeiert wird. Auch unsere Weisen diskutieren über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden Feste.
Wie an Pessach wird auch an Purim das Wunder der Rettung des jüdischen Volkes gefeiert. An Purim war es ein verschleiertes Wunder, ein Zeichen dafür ist, dass der Ewige mit keinem Wort in der ganzen Esther-Rolle erwähnt wird. Dagegen sprechen wir, wenn wir den Auszug aus Ägypten feiern, ununterbrochen über G’tt und Seine Wunder.
Eine weitere Gemeinsamkeit der Feste besteht in der traditionellen Weise des Feierns. Sowohl an Purim als auch an Pessach nimmt der Weingenuss einen zentralen Platz ein. Ein winziger Unterschied, der eigentlich viel ausmacht, besteht darin, dass das Trinken an Purim fast kein Maß kennt. So der Talmud Megilla 7b: „Am Purimfeste muss man soviel zechen, bis man zwischen „verflucht sei Haman“ und „gepriesen sei Mordechaj“ nicht mehr zu unterscheiden vermag.“ Dagegen ist der Weingenuss an Pessach streng definiert. Dabei ist es nicht nur die Anzahl der getrunkenen Gläser Wein, die vorbestimmt ist, sondern vor allem auch der Zeitpunkt, der Ablauf und die Körperhaltung während des Weingenusses sind einzuhalten.
All das wirft eine legitime Frage auf, warum das Trinken an beiden Festen so unterschiedlich ist, wenn doch der Grund der beiden Feste derselbe ist?
Unsere Weisen unternehmen den Versuch und beantworten diese Frage wie folgt: An Purim trinkt man theoretisch bis zu einer Stufe, wo sich alles vermischt und der Mensch sogar so starke Gegensätze wie den bösen Haman und den gesegneten Mordechaj nicht mehr voneinander unterscheiden kann. So bekunden wir den Zustand, wo wir in bestimmten Situationen das Geschehene nicht begreifen oder erklären können. Die himmlische Vorsehung regelt die Angelegenheiten, man kommt zum Ergebnis, dass es sich um ein Wunder gehandelt haben muss, kann jedoch nicht erklären, wann und wie die Erlösung kam. Es ist unser fast blinder Glaube, der uns erkennen lässt, dass es sich hierbei um die g‘ttliche Hand gehandelt haben muss. Deshalb ist das richtige Maß des Weingenusses an Purim erreicht, wenn man sogar klare Gegensätze nicht voneinander unterscheiden kann. Es ist nicht die Logik und der Verstand, die uns an die g’ttliche Vorsehung glauben lassen.
Dagegen ist an Pessach unser Trinkverhalten radikal anders, und das, weil der Glaube auch mal gelernt werden muss. Es wird gerade genug Wein getrunken, um das Fest als solches zu empfinden und kein Tropfen mehr, damit die Köpfe klar bleiben, um der Erzählung des Auszuges aus Ägypten zu folgen, alle Wunder und die Beziehung zwischen G‘tt und Mensch dabei zu erkunden. Es wird alles unternommen, um in der Seder-Nacht nicht beschwipst zu sein, und das, um das andere Gebot zu erfüllen, das an Pessach kein Maß hat. Diese besondere Mitzwa ist die Erzählung des Auszuges wie es in der Hagada steht: „Es ist Pflicht, die Geschichte des Auszuges aus Ägypten zu erzählen, und wer am meisten davon erzählt, ist lobenswert“. Denn nur so lässt sich lernen, wie der Ewige die Welt regiert, sich für die Bedürftigen einsetzt und seine Güte zum Ausdruck kommen lässt. Erst, wenn man gelernt hat zu glauben, erlangt man die Stufe des blinden Vertrauens. Wie schon König David seinen Sohn Schelomo unterwies in Diwrej Hajamim (I 28,9): „Du aber, mein Sohn Schelomo, erkenne den G‘tt deines Vaters und diene ihm mit ganzem Herzen und williger Seele, […] wenn du ihn suchst, wird er sich dir finden lassen [...]“
An Pessach (im ersten Monat des biblischen Jahres) will der Glaube gelernt sein, damit wir das ganze Jahr hindurch vom Erlernten profitieren und an Purim (im letzten Monat des biblischen Jahres) erlebt unser Glaube seinen Höhepunkt, wo wir anfangen G’tt blind zu vertrauen.
Ich wünsche den Mitgliedern aller Gemeinden des Landesverbandes von Westfalen-Lippe
Chag Pessach Kascher weSameach!
Baruch Babaev, Gemeinderabbiner
der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund