Rede des Rabbiners Babaev zum Gedenken an die Pogromnacht – Nov. 2020
Liebe Dortmunderinnen und Dortmunder,
wir Gedenken heute der Opfer des Pogroms von vor 82 Jahren, welches Hunderten von Juden das Leben kostete. In der Nacht vom 9. zum 10. November wurden über 1400 Synagogen und Bethäuser verbrannt, unzählige Geschäfte geplündert, über 400 jüdische Bürger wurden gelyncht. Nach den Angaben der Historiker dauerte das Morden bis zum 13. November an. Am 10. November wurden die rund 30000 verhafteten Juden in KZ interniert, mehrere Hundert Juden wurden Opfer der Folterungen und kehrten nie wieder heim.
Eine Woche vor dem heutigen Gedenken, haben zwar nicht alle Juden, zumindest aber die Wiener Juden wieder ähnliche Angst verspürt wie vor 82 Jahren, als vor der Tür der Wiener Synagoge geschossen wurde. Heute beklagen wir die Opfer aus Frankreich und Wien, die aus Hass ermordet wurden.
Vor einem Jahr, nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, dachte ich mir, dass jetzt alles anders sein wird, man würde nun aus Fehlern lernen und zumindest ich könnte zuversichtlich in die Zukunft blicken. Doch es kam anders, die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist mehr denn je besorgt. Wir sorgen uns nicht um die Zukunft, sondern um das Jetzt und Heute. Die Corona-Pandemie, die seit nun etwas über einem halben Jahr weltweit wütet, hat gewisse Prozesse in den Köpfen einiger Menschen beschleunigt und einen bereits verdrehten Verstand mit mehr Mythen gespeist. Tausende können das Gute von dem Bösen nicht unterscheiden, Licht und Dunkelheit nicht voneinander trennen. So erheben sich diese Massen, um zu demonstrieren, um der Polizei mit Gewalt zu begegnen und sogar einen Sturm auf den Sitz des Deutschen Parlaments zu wagen. Dies hatte ich befürchtet und in meiner Rede am 27.02. dieses Jahres im Dortmunder Rathaus bei der Fachveranstaltung zur Förderung der Demokratie bereits erwähnt. Aus der Geschichte wissen wir, dass bei Pandemien gerade die Juden dafür schuldig gemacht werden, damals im Mittelalter wurden ganze Gemeinden bestialisch ermordet oder vertrieben.
Die antisemitischen Verschwörungsmythen waren nie ganz weg aus den Köpfen einiger Menschen, doch seit Beginn von Corona nehmen sie neue Ausmaße an. Mit Sorge betrachte ich die Gesichter der Menschen bei den sogenannten Querdenkern, denn ich stelle fest, dass auch relativ junge Menschen sich in den Massen befinden. Glauben diese denn wirklich, was denen erzählt wird und falls ja, warum?
Vielleicht aber deshalb, weil wir schweigen? Wir schweigen aus Angst, Worte oder Redewendungen zu verwenden, die einige Menschen oder Gruppen eventuell verletzen könnten. Alles muss politisch korrekt sein, man weiß aber nicht genau wie, denn wir alle sind mit Geschichten wie „Pippi Langstrumpf“ aufgewachsen, finden aber dort Wörter, die nicht mehr politisch korrekt sind. Und was machen wir mit dem Grundgesetz?
Ich persönlich befürworte die Entwicklung der politischen Korrektheit in der Gesellschaft, das soll aber nicht zur Folge haben, dass wir aufhören, das Böse und Schlechte auch als solches zu bezeichnen. Denn während wir schweigen, reden die anderen und die haben wirklich kein Problem damit, jemanden durch ihr Gerede zu verletzen. Ich wünschte mir, dass der Satz, womit man die Kritik am Staat Israel legitimiert: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen." auch in anderen Themenkomplexen seine Anwendung fände. Wir Juden hätten kein Problem mit der Kritik am Staat Israel, wenn die Kritiker mit genauso viel Elan die Politik und das Handeln anderer Staaten anprangern würden.
Während wir schweigen, erheben die anderen das Wort und das im Namen G“ttes. Die Hassprediger zeugen Menschen, die am Tod mehr Gefallen finden als am Leben und ermorden die Geschöpfe G“ttes. Ein Lehrer hat sich für die demokratischen Werte eingesetzt, dabei wollte er mit seinen Schülern über die Grenzen des Sagbaren diskutieren. Einem Ruf zum Handeln ist gerade ein junger Mann gefolgt, der noch so viel hätte lernen können in seinem Leben. Wie zum Beispiel "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" – und das in der Tat im Namen G“ttes.
Während wir schweigen, erheben die anderen ihre Stimmen und speisen die Gehirne der Jugend. Wie Ursula Haverbeck, die Holocaustleugnerin, die vor ein paar Tagen aus der Haftanstalt entlassen wurde und wie es scheint, hat die Zeit in der JVA sie nicht gerade resozialisiert.
Den millionenfachen Mord an den Juden zu verharmlosen, ist nicht weniger gefährlich als den Holocaust zu leugnen. Gefährlich ist es deshalb, weil es immer mehr Anhänger findet, und das in jedem Milieu. Wer hätte gedacht, dass ein Klimaschutzaktivist wie Roger Hallam, der Mitbegründer der Bewegung zum Klimaschutz "Extinction Rebellion", den Holocaust als "fast normales Ereignis" bezeichnen würde.
Die letzten Demos gegen die Maßnahmen zur Corona Eindämmung haben gerade die Holocaustrelativierer für sich reklamiert. So liefen tausende mit den nachempfundenen Judensternen auf der Kleidung herum, nur statt "Jude" stand "umgeimpft" darauf. Auch das fällt unter Antisemitismus.
Wer geglaubt hat, dass der Antisemitismus nur von "ungebildeten Rechten" kommt, der täuscht sich gewaltig. Gewaltiger Antisemitismus kann auch von den gebildeten Linken kommen, wie zum Beispiel dem Historiker Achille Mbembe, der Israel beschuldigt, ein Apartheitssystem zu betreiben und die Rolle der Mörder übernommen zu haben. Dieser Holocaustrelativierer wurde in diesem Jahr von der damaligen Intendantin der Ruhrtriennale Stefanie Carp ins Ruhrgebiet eingeladen, um das Kulturfestival zu eröffnen. Zwei Jahre zuvor hat Frau Carp eine britische Band, die Boykott gegen Israel propagiert zum Festival eingeladen. Auf den Druck der Öffentlichkeit hin wurde die Band ausgeladen. Dabei sagte Frau Carp, dass sie noch nie von einer antisemitischen Boykottbewegung gehört habe und hat die Band erneut eingeladen.
Antisemitisch kann auch eine Bildungsveranstaltung sein. So Ende letzten Jahres, organisiert vom DGB Dortmund und den Globalisierungsgegnern von Attac. Dem geladenen Redner Andreas Zumach ging es in seinem Vortrag lediglich darum, die antisemitische Boykottbewegung BDS von dem Vorwurf des Antisemitismus reinzuwaschen. Einer hatte die Idee, ein anderer hat den Redner vorgeschlagen, wiederum ein anderer hat ihn eingeladen, noch ein anderer stellt die Räumlichkeiten zur Verfügung und am Ende trifft keinen wirklich die Schuld. Erinnert Sie das gerade auch an etwas wie mich?
Und doch bin ich zuversichtlich. In meinen sieben Jahren als Dortmunder sehe ich, wie prächtig diese Stadt sich entwickelt hat. Die Stadt hat sich stets gegen Fremdenhass, Antisemitismus und Gewalt eindeutig positioniert. Mit dem Frühlingsfest DortBunt wird nicht nur die Befreiung Europas vom Faschismus gewürdigt, sondern wird auch für Toleranz und Weltoffenheit geworben.
Seit zwei Jahren ist das Netzwerk zur Bekämpfung von Antisemitismus ein wichtiger Bestandteil Dortmunds, dem viele Partner angehören. Die im März 2019 unterzeichnete Grundsatzerklärung gegen Antisemitismus war ein bedeutender Arbeitsschritt des Netzwerkes. Mit diesem Vorstoß setzte die Stadt ein bedeutendes Signal.
In diesem Jahr hat der Rat der Stadt der Wiedereröffnung einer jüdischen Schule in Dortmund zugestimmt. Die Dortmunder jüdische Schule war die letzte jüdische Institution in Dortmund, die im Herbst 1942 geschlossen wurde. Die letzten 70 Schüler und Schülerinnen wurden gemeinsam mit ihren Lehrern ins Ghetto Riga deportiert und von dort in die Todeslager geschickt. Keines dieser Kinder hat den Holocaust überlebt.
Ich bin mir sicher, dass diese und auch andere wichtige Impulse der Stadt dazu massiv beigetragen haben, wie die Wahlen im letzten September ausgefallen sind.
Es lohnt sich, die Stimme zu erheben und sich eindeutig zu positionieren, Antisemitismus, ganz gleich aus welcher Ecke, nicht zu dulden und zu bekämpfen, denn es ist nicht nur eine Bedrohung für die Juden, sondern für alle.
Nach nun etwas mehr als sieben Jahren in Dortmund, gehe ich mit meiner Familie zurück nach Israel. In ein Gebiet, welches heute Geschichte schreibt. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain haben im September dieses Jahres einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnet. Weitere Staaten sollen bald diesem Beispiel folgen. Was unmöglich erschien, ist jetzt Tatsache. Auch das macht mich zuversichtlich, wenn mehr und mehr sich für ein friedliches Miteinander entscheiden, dann profitieren alle davon.
Das Jahr 2021 ist ein Jubiläumsjahr für die Juden und die Bundesrepublik. Es sind bundesweit Feierlichkeiten und Events anlässlich der „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ geplant, um die Bedeutung der jüdischen Kultur und Geschichte für Deutschland wachzuhalten. Nach diesen 1700 Jahren hierzulande, möchten wir uns hier auch zuhause fühlen.